Autorin: Susanne BurkhardtLesezeit 4 Minuten

Mira und Mathe. Mira kommt zur Tür herein. Sie ist 8 Jahre alt und besucht die 3. Klasse. Ich freue mich sie zu sehen und begrüße sie herzlich. Wie reagiert Mira? Was bringt sie jetzt mit? Welche Gefühle, Erlebnisse, Gedanken, Wünsche und Erwartungen hat sie heute im Gepäck?

Moment für Moment

Unser Auftrag ist für uns beide immer klar: Mira möchte Mathe besser verstehen lernen. Sie wünscht sich, dass es leichter geht und sie von sich sagen kann, sie könne rechnen. Daran arbeiten wir, Woche für Woche, Stunde um Stunde, mit kleinschrittigen Zielen, die meistens in der Zukunft liegen. Manchmal gelingt es uns auch, ein Ziel in einem besonderen Augenblick zu erreichen, wenn alles zusammenpasst. Ob das in dieser einen Stunde so sein wird, wissen wir nie.

Für mich als Lerntherapeutin ist jede Therapiestunde eine Herausforderung und Entdeckungsreise. Ich spüre, beobachte, was Mira im Augenblick braucht, um ihrem Ziel näher zu kommen, es mit Erfolg zu erreichen. Gleichzeitig erinnere ich mich an meinen Therapieförderplan, was ich heute mit Mira alles machen sollte, damit die Stunde zu einer guten Therapiestunde werden kann.

Ankommen oder Weiterkommen

Mira setzt sich mir gegenüber, ich fühle mich bereit, loszulegen. In der Interaktion und Kommunikation merke ich, dass sie noch nicht im Hier und Jetzt angekommen ist, um sich für die Lernsituation zu öffnen. Mira fällt es offensichtlich schwer, aus dem vielfältigen Angebot an Reizen, welches die Umwelt ihr bietet, genau diesen Reiz – die Lernaufgabe – zu fokussieren, auszuwählen. Alle anderen Reize soll sie unterdrücken und dann noch die Gedanken an den Papa, der am nächsten Tag aus der Türkei zurückkommen wird, als weniger wichtig einzustufen. Was für eine Herausforderung an ein kleines Mädchen! Jetzt, im Augenblick, ist doch Mathe wichtig! Wir wollen uns mit dem Zehnerübergang beschäftigen, und im Hintergrund läuft die Zeit. Ich bewerte und komme nicht weiter.

Kontrollverlust

Sehr häufig erlebe ich diese Situationen, dass Kinder die Kontrolle verlieren, ihre Aufmerksamkeit bewusst zu lenken. Sie merken es nicht, wenn die Kontrolle verloren geht – erst wenn sie verloren gegangen ist, die Aufmerksamkeit. Es passiert eben, sie machen es nicht absichtlich. Wir gehen auf einmal nicht mehr den gleichen Weg oder wir waren und sind von Beginn der Therapiestunde an unter Umständen auf unterschiedlichen Wegen unterwegs. Ein Verinnerlichen von Lerninhalten wird so kaum möglich sein.

In solchen Momenten und Entwicklungen bin ich sehr dankbar, wenn ich mich in mir sicher fühle. Dann kann ich Ruhe bewahren und mit meiner ganzen Aufmerksamkeit bei meinem Gegenüber sein, um ganz für den Anderen da zu sein, ohne die Angst haben zu müssen, mich zu verlieren, weil ich von meinem Plan abkomme. Genau dann bin ich mit Mira in einer gelingenden Beziehung. Mira spürt, dass ich sie respektiere und sie nicht ruckartig zur Aufgabe herhole. Ich nehme sie verständnisvoll an der Hand und führe sie. Wir kommen zusammen an und können uns dem Lernen stellen.

Was brauchen Kinder um Zuversicht zu entwickeln, was um ihren Fähigkeiten zu vertrauen? Was brauchen Eltern, um ihre Kinder auf dieser Reise zu begleiten und um sie zu stärken, ohne sich selbst dabei verloren und überfordert zu fühlen?

Susanne Burkhardt