Autorin: Susanne Burkhardt •  Lesezeit: 8 Minuten Artikel auch als Podcast •


Schiefgelaufen!

Die Haustür fällt ins Schloss, Theo knallt den Schulranzen in die Ecke. Jacke und Schuhe werden auf den Boden geschleudert, obwohl es auch schon Tage gab, an denen das wunderbar funktionierte. Das nervt! Es ist doch nicht zu viel verlangt, die Schultasche ordentlich abzustellen, die Schuhe und die Jacke an den dafür vorgesehenen Platz zu legen. Oder heute vielleicht doch?

Ein kurzes Hallo zur Begrüßung und Marion bemerkt an Theos Stimme und seinem Gesichtsausdruck, dass heute was schiefgelaufen ist. Sie könnte es einfach ignorieren, so tun, als wenn sie es gar nicht bemerken würde. Vielleicht verfliegt die miese Stimmung ganz von allein und alles ist wieder gut. Wenn sie ihn sofort darauf anspricht, dann riskiert sie unter Umständen eine trotzige Antwort. Oder vielleicht gar keine, oder einfach ein „Weiß nicht“. Ignorieren ist nicht ihre Art. Sie nimmt genau wahr, was ist. Gleichzeitig sitzt ihr die Zeit im Nacken. Mittagessen, Hausaufgaben, Arzttermin und noch Elternabend. Mike hat auch schon angekündigt, dass es später werden könnte.

Chaos! Mir fällt dazu die sehr schöne Metapher von Daniel J. Siegel (Neuropsychologe) ein.

Ein ruhiger Fluss, der sich durch eine unberührte Landschaft schlängelt. Der Fluss unseres Wohlbefindens.“

Die Ufer Chaos & Erstarrung

Immer dann, wenn wir in unserem Kanu gleichmäßig auf dem Wasser dahingleiten, dann haben wir eine gute Beziehung zur Umgebung – zu uns selbst und zu anderen Menschen. Manchmal kommen wir mit unserem Kanu einem der beiden Ufer zu nahe. Das rechte Ufer steht für Chaos, das linke für Erstarrung. Am Ufer des Chaos verlieren wir die Kontrolle. Statt weiter dahinzugleiten, verfangen wir uns im Sog von Strömungen – Unruhe und Verwirrung breiten sich aus. Am Ufer der Erstarrung geschieht genau das Gegenteil. Wir kontrollieren übermäßig stark. Uns selbst und auch die Menschen, die uns in dem Moment nah sind. Wir sind unfähig uns anzupassen. Die Flexibilität geht verloren. Egal an welchem Ufer wir uns aufhalten, die Balance geht damit verloren. Schaue ich mir die beiden Ufer genauer an, so stehen sie für die linke und die rechte Gehirnhälfte.

Das rechte Ufer

Die rechte Gehirnhälfte ist der Ort meiner Emotionen. Mit ihr werden mir die Gefühle und Empfindungen meines Körpers bewusst. Hier sind auch das Bauchgefühl und meine Herzintuition wahrnehmbar. Ich nehme Mimik und Gestik meines Gegenübers wahr und mein Körper sendet Signale, wie es mir geht. Mit der rechten Gehirnhälfte haben wir den ganzheitlichen Blick. Sie ermöglicht uns die Fähigkeit des Mitgefühls. Sich einfühlen können in die Gefühle eines nahen Menschen – ganz ohne Sprache.

Das linke Ufer

Die linke Hirnhälfte ist unser denkender Ort. Vernunft und Verstand haben hier ihre Wurzeln. Mit ihr treffen wir wichtige Entscheidungen und lösen Probleme – sachlich, nüchtern, bodenständig und kontrolliert. Alles muss seine Ordnung haben. Einzelheiten sind von Bedeutung. Sie fragt nach Ursache und Wirkung. Die Sprache ist ihre Spezialität.

Befinden wir uns am „linken“ Ufer, nennt Daniel J. Siegel diesen Zustand die emotionale Wüste. Wir sind sehr kontrolliert und unser Blick ist sehr eng. Unfähig, Emotionen und Bedürfnisse des anderen wahrnehmen zu können. Manchmal flüchten wir auch unbewusst auf die linke Seite, um mit schmerzhaften Erfahrungen besser zurechtzukommen.Verbinden wir uns ausschließlich mit unserer rechten Seite, dann besteht die Gefahr, dass wir von einer „emotionalen Flutwelle“ mitgerissen werden. Emotionen wie Angst, Trauer, Mitleid, Euphorie und Hysterie können uns unkontrolliert überrollen.

Außerhalb der Mitte

Wir alle kennen diese Situationen, in denen wir aus unserer Mitte geraten. Manchmal nehmen wir die Dysbalance weniger wahr, manchmal sehr deutlich und belastend. Um ein Wohlfühlen im Alltag möglich zu machen, enge Beziehungen leben zu können, brauchen wir die Teamarbeit von beiden Hirnhälften. Diese Teamarbeit ist uns nicht in die Wiege gelegt. Wir alle haben das Trainingsfeld unseres Alltags. Gemachte Erfahrungen formen unser Gehirn. Eltern begleiten ihre Kinder und haben die besondere Möglichkeit, Kinder dabei zu unterstützen, Erfahrungen zu sammeln, die das Wachstum und die Teamarbeit der linken und rechten Hirnhälfte beeinflussen.

Eine riesige Herausforderung – denn wer zeigt oder lehrt uns wie das gehen soll?

Jeder hat seine eigenen gemachten Erfahrungen und bringt seine persönliche Geschichte in eine Beziehung mit – in jede Beziehung, die wir zulassen. Vielleicht können ein bewusstes, achtsames Wahrnehmen und das Wissen, wie wir funktionieren, eine neue Erfahrung ermöglichen.

Eltern wollen doch nur das Beste

Eltern wünschen sich das Beste für ihre Kinder. Diese Erfahrung mache ich täglich in meiner Arbeit als Lerntherapeutin. Dann höre ich immer wieder, was nicht gut läuft und dass Situationen eskalieren. Hier wünsche ich mir so sehr für die Eltern und für die betroffenen Kinder, dass sie sich auf den Moment einlassen können, beobachten und wahrnehmen was jetzt gerade passiert.

Mein Kind ist im Chaos, also rechte Hirnhälfte, da brauch ich jetzt nicht mit irgendwelchen Regeln aufwarten und an den Verstand meines Kindes appellieren. So werde ich mein Kind nicht erreichen. Die Situation wird sich auf beiden Seiten emotional weiter aufschaukeln. Zeigen die Eltern Interesse für die Gefühle ihres Kindes, indem sie sich mit der rechten Hirnhälfte ihres Kindes verbinden, kann Kommunikation gut gelingen. Ein kleiner, aber wertvoller Umweg, um anschließend die linke Hirnhälfte ins Boot zu holen.

Gerne möchte ich das Buch „Achtsame Kommunikation mit Kindern“ von Daniel J. Siegel & Tina Payne Bryson allen ans Herz legen, die neugierig geworden sind und Lust verspüren, ihr eigenes Trainingsfeld neu zu entdecken und nutzen zu können.

Ihre Susanne Burkhardt

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