Autorin: Susanne Burkhardt • Dauer: 5 Minuten  auch als Podcast •


„Ich denke, also bin ich“, meinte der Philosoph René Descartes.

„Ich spüre, also bin ich“, entdeckte der Schweizer Psychiater und Abenteurer Bernard Piccard für sich. Einmal am Tag

Was denkst Du?

Die Frage „Was denkst Du?“ ist uns gewohnt und vertraut. Im Denken sind wir wahre Meister und Könner. Der Geist befeuert uns mit Gedanken im wachen Zustand nonstop. Wie ist das mit dem Spüren? „Was spürst Du?“

Es geschieht gänzlich unbewusst, dass ich das Spüren vernachlässige und mich ganz im Denken verliere. Die Fähigkeit zu spüren ist in uns. Die Bahnen vom Gehirn zu den einzelnen Sinneskanälen sind mit dem Erwachsen werden, schmal und dünner geworden. Gelöscht sind sie nicht. Da ist immer noch eine feine Spur vorzufinden, um wieder eine breite Straße entstehen zu lassen.

Öfter

Je öfter wir spüren, bewusst wahrnehmen und unsere Sinneskanäle anzapfen, je mehr Nervenzellen vernetzen sich. Das Spüren wird uns wieder vertraut und zu einem wertvollen Instrument, im Jetzt zu sein. Zu sich zu finden, bei sich und mit sich selbst im Kontakt zu sein. Die Fähigkeit, meinen Körper zu spüren, meinen Bedürfnissen und den damit verbundenen Gefühlen Raum zu geben, ist mir eine Herzensangelegenheit. Bin ich gut bei mir, dann kann ich mich auf meine Umwelt einlassen, ihr mit offenem Herzen und Geist begegnen. Einmal am Tag

Ein kleines Beispiel aus meiner Praxis:

Leo lässt sich leicht ablenken und hat entsprechend Schwierigkeiten, sich zu fokussieren und ausdauernd konzentriert zu bleiben. Das Verinnerlichen von Lerninhalten und das Erledigen seiner Hausaufgaben stimmen ihn unzufrieden. Gemeinsam versuchen wir herauszufinden, was Leo braucht, um leichter lernen zu können. Leo hat heute eine Aufgabe mit auf seinen Weg bekommen. Er darf sich während den kommenden Wochen mit dem Sehen, dem Hören und dem Spüren beschäftigen.

Einmal am Tag

Die Aufgabe lautet: „Leo, geh mindestens einmal am Tag raus in die Natur. Such Dir einen Baum, eine Pflanze, einen Blütenteppich, einen Ameisenhaufen, eine Hummel oder ein kauendes Schaf. Fokussiere Dich und lass Dich überraschen, was Du alles im Detail sehen und wahrnehmen kannst. Sollte Dein Geist aktiv werden und Dich in Geschichten verstricken wollen, dann lass die Gedanken weiterziehen und bleibe ganz am Ort der Beobachtung. Spüre nach, was Du fühlst, wenn Du Deine Aufmerksamkeit kurzzeitig von außen nach innen richtest. Einmal am Tag

Entdecken

Entdecke durch bewusstes Hören die feinen Nuancen eines Geräusches. Welche Qualität steckt in diesem Geräusch? Da ist das Rauschen eines Bachs, da sind die Reifengeräusche von vorbeifahrenden Autos und Lastwagen. Welche Nuancen kannst Du im Geräusch erfassen? Dein Körper spürt in Rücken- oder Bauchlage den Betonboden, die Blumenwiese, die Matte oder das duftende Heu. Deine Hände streichen sanft oder kraftvoll über eine Baumrinde, sei neugierig und offen, für das, was Du spüren kannst und welche Empfindungen sich in Deinem Körper zeigen.“

Leos Augen strahlen eine kindliche Neugierde aus, auch wenn ein 12-jähriger Junge schon sehr mit dem Denken vertraut ist. Jeden Tag sich einer Sinneswahrnehmung öffnen. Wach und im Moment.

„Nicht denken, ist Ruhe finden“, lächelt Leo und macht sich auf den Weg. 

Noch eine kleine Anmerkung: Nein, den letzten Satz habe ich mir nicht ausgedacht! Es waren Leos Worte. Ein besonderes Dankeschön an Leo für diesen überraschenden, herzerfüllenden Moment. Einmal am Tag

Ihre
Susanne Burkhardt