Autor: Thomas Schönmetz • Dauer: 7 Minuten •
Freiheit und Macht im Raum zwischen Reiz und Reaktion. Der „Raum zwischen Reiz und Reaktion“ spielt beim Entdecken meiner Möglichkeiten eine zentrale Rolle. Doch was ist dieser Raum eigentlich und welche Möglichkeiten habe ich in diesem Raum?
In Achtsamkeitskursen wird gerne das Zitat von Viktor Frankl benutzt, um den Wert des gegenwärtigen Augenblicks zu verdeutlichen:
„Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum.
In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion.
In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“
Was ist dieser „Raum“ zwischen Reiz und Reaktion?
Die Schaffung von Raum zwischen Reiz und Reaktion – vor allem in Momenten von Stress und starken Emotionen – kann besonders hilfreich sein. Und wie jeder Achtsamkeit Praktizierende weiß, liegt genau hier auch das Problem mit diesem inneren Raum.
Denn wenn die emotionale Welle hochschwappt und wir vom Stressgeschehen überwältigt werden, fallen wir gewöhnlich in automatische Reaktionsweisen zurück und verpassen den Moment zwischen dem Stressreiz und unserer Reaktion. Oft merken wir erst im Nachhinein (wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist), dass wir ihn verpasst haben.
Das ist auch kein Wunder, denn wenn wir uns angegriffen und bedroht fühlen, leitet unser Überlebensinstinkt augenblicklich die Generalmobilmachung ein, um uns auf Kampf oder Flucht vorzubereiten. Dieser Vorgang läuft „unter dem Radar“ ab. Vollautomatisch sozusagen – und vor allem: in Bruchteilen von Sekunden.
Konditionierte Verhaltensweisen
Die Achtsamkeitslehre zielt darauf ab, in diesen Vorgang einzugreifen, damit wir nicht zum Opfer unserer automatischen, unbewussten Reaktionen werden und uns anschließend in Situationen wiederfinden, die wir gar nicht haben wollten. Viktor Frankl drückt in seinem Zitat aus, was zweieinhalbtausend Jahre zuvor schon Buddha erkannt hat und was moderne neurowissenschaftliche Forschungen bestätigen: Nicht der Stress-Reiz als solcher bestimmt unsere Art der Reaktion, sondern unsere unbewussten Bewertungen.
Von der unbewussten Stressreaktion zur bewussten Stressantwort
Zwischen einem Reiz und unserer Reaktion darauf liegt der winzige Raum der Bewertung, in welchem wir die Freiheit haben, automatische Stressreaktionen zu stoppen und uns für eine bewusste Stressantwort zu entscheiden. Wollen wir also aus den konditionierten, automatischen Reaktionsmustern aussteigen, die sich im Laufe unseres Lebens entwickelt haben und wollen wir neue, selbstbestimmte Denk-, Fühl- und Handlungsweisen entwickeln, ist es erforderlich, in diesen Prozess einzugreifen.
Der gegenwärtige Moment: Anfangs mehr ein Spalt als ein Raum
Ich schreibe hier zwar von „Raum“ – aber eigentlich handelt es sich eher um einen kleinen „Spalt“, und wir haben nur Bruchteile von Sekunden, ihn zu erwischen und daraus einen Raum zu bauen. Es gilt grundsätzlich, den Raum zwischen Reiz und Reaktion richtig zu verstehen.
Gegenwärtiger Moment
Ein mächtiges Werkzeug der Achtsamkeit. Den Raum zwischen Reiz und Reaktion finden wir im gegenwärtigen Moment. Ist der Reiz angenehm für uns, so fällt es sehr leicht diesen Moment zeitlich auszubauen und in diesem zu verweilen – bewusst! Beispiele:
- Jemand teilt meine Meinung und ich freue mich daran – ich genieße diesen Moment
- Ich erhalte eine positive Rückmeldungen zu meinem Tun – ich genieße meine getane Arbeit
- Schöne Momente des Lebens, die meinen Erwartungen entsprechen – es entwickelt sich nach meinem Gusto – alles prima.
- Im Straßenverkehr gewährt mir ein anderer Vorfahrt und lässt mich einfahren.
Ist der Reiz unangenehm und wir reagieren sofort mit dem Beginn unserer Reaktion, dann haben wir die Möglichkeit um einen zeitlichen Raum zu schaffen verpasst, bspw.:
- Jemand fährt zu langsam vor mir her – das reizt mich negativ und ich fange an zu hupen und bin verärgert
- Ich bekomme eine unerfreuliche Email bzgl. einer Produktbeschwerde – diese triggert mich persönlich, obwohl es nicht um mich geht und ich schreibe „unangemessen“ zurück.
- Vor mir an der Kasse stehen 4 Menschen mit vollen Einkaufskörben was mich sofort reizt, ich werde wütend und bin nach Verlassen des Supermarktes total gestresst.
- Ich fahre auf einen Parkplatz, der augenscheinlich (im ersten Moment) sehr voll ist und reagiere sofort mit Wut, weil es wahrscheinlich keinen Parkplatz für mich gibt.
In solchen Momenten verpassen wir in fast allen Fällen diesen Spalt, um einen Raum zu schaffen! Und genau hier liegt das Problem.
Schöne hässliche Momente
Achtsam zu sein bedeutet, im gegenwärtigen Moment präsent zu sein. Es bedeutet auch dann hier zu bleiben, wenn es verwirrend ist, wenn es weh tut und wenn wir am liebsten davonlaufen würden. Achtsamkeit zu praktizieren bedeutet, diesen Raum des gegenwärtigen Moments zu erkunden und in Erfahrung zu bringen: Was geht gerade in mir vor?
Wenn es gelingt, auch angesichts von Schmerz präsent zu bleiben und nicht auszuweichen, dann kann man etwas über die wahre Lebendigkeit und Schönheit des Augenblicks erfahren – auch wenn er im einfachen Verständnis nicht „schön“ ist.
Solche Erfahrungen kann man nur machen, wenn man mutig genug ist, sich dem zu stellen, „was jetzt gerade ist“. Es geht um das Verständnis von Wahrnehmung. Wahrnehmen bedeutet, Sinneswahrnehmungen zuzulassen (auch schmerzvolle) und es bedeutet, Erleben zu vertiefen.
Präsent zu sein, im Raum zwischen Reiz und Reaktion hat viel mit Vertrauen zu tun – Vertrauen in die eigene Verletzlichkeit. Und Vertrauen in Nicht-Wissen, denn wir wissen nie, was im nächsten Moment geschehen wird. Vielleicht werden wir von einer Welle aus Wut, Angst, Schmerz, Schuld, Scham oder Verwirrung überschwemmt. Wir wissen es nicht – aber wir haben die Bereitschaft, mit dem zu sein, was ist.
Die Macht dieses Raumes – meine Macht – mein Wachstum!
In unserem hektischen Alltag bewegen wir uns oft von einer Aufgabe zur nächsten, ohne innezuhalten. Die Zeit vergeht in einem endlosen Strom von Handlungen und Gedanken, und unser Geist scheint ständig auf Autopilot zu laufen. Dabei ist es leicht, auf äußere Reize impulsiv zu reagieren, anstatt bewusst zu agieren. Doch genau hier verbirgt sich eine der wertvollsten Lektionen der Achtsamkeit: der Raum zwischen Reiz und Reaktion.
Der Raum als Ort des Wachstums
Wenn wir den Raum zwischen Reiz und Reaktion erkennen, gewinnen wir eine immense Freiheit. Diese Freiheit liegt darin, wie wir auf die Welt und die Menschen um uns herum reagieren. Es bedeutet nicht, dass wir nie negative Emotionen erleben oder dass wir in stressigen Situationen immer ruhig bleiben müssen. Aber es bedeutet, dass wir die Wahl haben, wie wir mit diesen Emotionen und Situationen umgehen.
Durch gelebte Achtsamkeit öffnen wir die Tür zu einem tieferen Verständnis unserer selbst und unserer automatischen Reaktionsmuster. Wir erkennen, welche Glaubenssätze oder alten Verletzungen unsere Reaktionen beeinflussen. Mit diesem Bewusstsein können wir wachsen und neue, gesündere Wege finden, auf das Leben zu reagieren.
Letztendlich darf man hier auch von Macht sprechen – von meiner Macht. Wenn ich bspw. in einer hitzigen Auseinandersetzung die „Nerven verliere“, sprich den Einstieg in diesen Raum verliere, so gebe ich all meine Macht an die andere Person ab. Wenn ich – trotz einer hitzigen Debatte – meinen Raum sehe und diese Möglichkeit nutze, so führe ich das Gespräch und bin nicht im argumentativen Abwehrmodus. Ich „führe“ das Gespräch und lenke es auch bewusst dorthin, wo ich hin möchte.
Praktische Übungen, um den Raum zu erweitern
Meditation: Setzen Sie sich täglich für einige Minuten hin und beobachten Sie Ihren Atem. Diese einfache Übung hilft Ihnen, das Hier und Jetzt zu erfahren und eine innere Ruhe zu kultivieren, die Ihnen im Alltag zugutekommt.
Reflexion nach der Reaktion: Wenn Sie merken, dass Sie impulsiv auf einen Reiz reagiert haben, nehmen Sie sich einen Moment, um darüber nachzudenken. Was hat diese Reaktion ausgelöst? Hätte es eine andere Möglichkeit gegeben? Diese Reflexion ist ebenfalls Teil des Wachstums.
Fazit
Der Raum zwischen Reiz und Reaktion ist ein mächtiges Werkzeug, das uns die Freiheit gibt, bewusst auf die Herausforderungen des Lebens zu reagieren, anstatt uns von automatischen Mustern steuern zu lassen. Durch die Praxis der Achtsamkeit lernen wir, diesen mächtigen Raum zu nutzen, unser Leben mit mehr Bewusstsein und Gelassenheit zu führen und in jedem Moment die Wahl zu haben.
Ihr Thomas Schönmetz
Ich liebe dieses Zitat von Viktor Frankl!
Großartig und einfach schön zu lesen, was Du dazu zu sagen hast. Insbesondere das Fazit! Die Königsdisziplin wunderbar auf den Punkt gebracht. Dankeschön Thomas.