Autorin: Jessica Granitza • Dauer: 6 Minuten •
Wann sich Meditation wie Folter anfühlen kann – ADHS und Achtsamkeit. Kaum aushalten konnte ich meinen ersten „Bodyscan“, eine Körperspürübung über 45 Minuten, damals als Teilnehmerin eines MBSR-Kurses. Es war fast wie Folter für mich, einfach nur dazuliegen und mit meiner Aufmerksamkeit einzelne Körperteile anzusteuern. Gespürt habe ich zudem sehr wenig in meinem Körper. Und wenn ich mich bemühte, meinen großen Zeh oder ein anderes Körperteil zu spüren, dann brauchte ich so lange, um meinen Fokus dort zu verankern, dass die Anleitung immer schon zum nächsten Körperteil überging, wenn ich es endlich geschafft hatte, meinen Fokus zu wechseln und alle anderen Wahrnehmungen auszublenden. Frustriert und leidend lag ich da und sehnte das Ende der Übung herbei. Voller Hoffnung, wir würden danach endlich (!) mal die Sache mit dem Stress angehen. Dafür war ich ja schließlich hergekommen. Meditation-Folter-ADHS
Aufmerksamkeit & ADHS
Inzwischen weiß ich, dass Probleme, die Aufmerksamkeit zu lenken oder aufrechtzuerhalten eines der neun treffsichersten Symptome von ADHS bei Erwachsenen ist. Aufmerksamkeitsprobleme können aber auch eine Folge von Trauma oder anderen psychischen Störungen oder von schwerem Stress sein.
Stillsitzen oder still Daliegen kann eine schier unerträgliche Belastung darstellen, ebenso die Dauer einer Meditation. Auch das Engstellen des Aufmerksamkeitsfokuses, z.B. die Ausrichtung auf die Atmung oder auf ein einzelnes Körperteil, kann unmöglich bis schwer belastend sein.
Im Falle von ADHS liegt keine generelle Unfähigkeit zur Konzentration vor. Die Aufmerksamkeit von Menschen mit ADHS unterliegt einem abweichenden Aktivierungsprofil als Folge eines Dopaminmangels im Gehirn. Viele Erwachsene wissen daher nicht, dass sie ADHS haben. Auch Traumatisierungen (große oder kleine) oder chronischer Stress sind den Betroffenen oft gar nicht bewusst. Meditation-Folter-ADHS
Ablenkbarkeit & Aufmerksamkeit
Natürlich ist das Aufrechterhalten der Aufmerksamkeit für alle Menschen eine Herausforderung, insbesondere im Rahmen einer nicht-angeleiteten Meditation. Das war schon vor 2000 Jahren so, als es noch keine Telefone und kein Social Media gab. Es gibt Berichte über Mönche, die vergeblich versuchten, den irdischen Ablenkungen zu entkommen, indem sie alle Beziehungen außerhalb des Klosters und alle ihre Besitztümer aufgaben. Wissenschaftler gehen davon aus, dass unsere hohe Ablenkbarkeit eine evolutionäre Überlebensstrategie ist. Stellen Sie sich vor, wie Sie als Urmensch ganz genüsslich von dem Wildbeerenstrauch naschen und vertieft in den Genuss nicht bemerken, wie Sie gleich selbst zum Nachtisch werden, weil Sie den Säbelzahntiger hinter sich nicht wahrgenommen haben. Meditation-Folter-ADHS
Die unwillkürliche Ablenkbarkeit hat vermutlich unser Leben gerettet.
Dennoch ist die gedankliche Sprunghaftigkeit, das Gedankenwandern oder auch das unflexible Festhalten der Aufmerksamkeit eines Menschen mit ADHS nicht zu vergleichen mit einem Menschen ohne ADHS. Für Menschen mit ADHS (ob bekannt oder unbekannt) ist es sehr schwer und je nach Anleitung auch sehr belastend bis kontraproduktiv, meditieren zu lernen.
Achtsamkeit wirkt
Die gute Nachricht ist, auch Menschen mit ADHS können meditieren lernen und ACHTSAMKEIT WIRKT!
Ich spreche aus Erfahrung. Studienergebnisse belegen meine Erfahrung. Ich bin ein anderer Mensch, wenn ich ein paar Tage lang meine Sitzmeditation vernachlässige. Meditation verbessert die ADHS-Symptome und das allgemeine Wohlbefinden signifikant.
Falls die nötige Motivation für eine regelmäßige Übung nicht ausreichen sollte, könnte es bei Menschen mit ADHS hilfreich sein, zunächst medikamentös zu behandeln, damit diese das erreichbare Ziel überhaupt kennenlernen können. Meditation-Folter-ADHS
Mit diesem Artikel möchte ich dazu einladen, die eigenen Schwierigkeiten in der Meditation freundlich anzunehmen und sich nicht dadurch entmutigen zu lassen, wie eine Meditation vermeintlich sein sollte oder wie es andere vielleicht schaffen zu meditieren. Die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit ist eine höchst individuelle Angelegenheit – abhängig von der Entwicklung unseres jeweiligen Gehirns oder von unserem akuten Stresslevel. Es ist also nicht unsere Schuld oder Verantwortung wieviel Aufmerksamkeit wir leisten oder halten können, sondern abhängig von einer Vielzahl von Umständen, die uns zu der oder dem gemacht haben, wer wir sind.
Wege
Ich möchte dazu ermutigen, eigene Wege in der Meditation zu finden, sei es durch Bewegung, durch den Einstieg mit kurzen Meditationseinheiten, durch einen weiten Fokus oder andere als die klassischerweise angebotenen Anker (z.B. einen visuellen Anker). Zudem möchte ich darin bestärken, sich und die jeweilige Meditationsübung anzunehmen in der Geisteshaltung des Nicht-Bewertens. Auch wenn die Gedanken immer wieder abdriften, ist genau das Meditation:
Das stete Zurückkehren zur Aufmerksamkeit, nachdem diese immer wieder entgleitet. Meditation-Folter-ADHS-Achtsamkeit
Unser Geist ist sehr geschickt darin, uns in der Meditation Gründe aufzuzeigen, warum wir diese vorzeitig abbrechen sollten (weil „es heute nicht „funktioniert““, oder „nicht gut läuft“, „das heute keine „richtige“ Meditation ist“, „heute eh nichts bringt“, „Wichtigeres zu tun ist“, „die Schmerzen in Rücken, Beinen etc. heute nicht auszuhalten sind“ oder „ich mich ja auch später nochmal auf mein Meditationskissen setzen kann“).
Die Herausforderung ist es, diesen Gedanken zu widerstehen, auch wenn unser Geist anfängt zu toben und zu zetern. Er wird auf jeden Fall überzeugende Argumente finden. Daher: vorher eine machbare Zeit festlegen – auch wenn es nur wenige Minuten sind. Den Timer stellen und dem Geist widerstehen – ohne zu bewerten.
Und nicht vergessen: Achtsamkeit macht glücklich! Meditation-Folter-ADHS
Ihre Jessica Granitza
Weiterführende Links zum Thema ADHS: www.adxs.org und www.adhs-deutschland.de
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