Autorin: Jessica Granitza • Dauer: 6 Minuten


Warum Belohnung genauso schlimm ist wie Bestrafung. Wie wir zu funktionierenden Menschen geworden sind und was wir anders machen können, – egal, ob wir Eltern, Verwandte, Lehrer oder Erzieher sind.

„Wer nicht hören will, muss fühlen! Der Kindergeburtstag am Sonntag ist gestrichen.“ hörte ich neulich einen Bekannten sagen, dessen 7-jähriger Sohn in der Schule den Unterricht stört und den die Klassenlehrerin offensichtlich nicht leiden kann. Bei den Mitschülern kommt er genauso wenig an und hat nur einen einzigen Freund. Folglich dürfte das der einzige Kindergeburtstag im Jahr gewesen sein.

Liebe LeserInnen, ich hoffe sehr, dass Sie bei mir sind und natürlich wissen, dass der Kindergeburtstag und das Stören in der Schule in keinem kausalen Zusammenhang stehen. Am Wochenende – also während der Freizeit – nicht zu einem Geburtstag gehen zu dürfen, ist keine natürliche Folge des störenden Verhaltens während der Schulzeit. Das wäre ja gerade so, als wenn wir wegen unerwünschtem Verhalten unserem Chef gegenüber, am Wochenende den Grillabend mit Freunden abgesagt bekämen. Die Bestrafung ist folglich nichts anderes als ein Akt elterlicher Willkür. Man könnte es auch Schikane nennen. Belohnung

Vermutlich sind die meisten von uns genau so groß geworden. Und weil wir das so sehr verinnerlicht haben, fällt es uns im schlimmsten Fall nicht einmal auf, was wir da tun. Im besseren Fall, bleibt ein schales Gefühl zurück, weil wir dieses Wissen doch irgendwo in uns haben.

Bestrafen kann verschiedene Formen annehmen. Das geht über das direkte Hinzufügen von Schmerzen oder Nachteilen, Zuwendungsentzug oder das Hervorrufen von Emotionen wie Angst, Scham oder Schuld. Wenn die Mama zum Beispiel sagt, ich bin dann ganz traurig, wenn du nicht gleich kommst…. werden soziale Emotionen wie Schuld geweckt. Wenn wir das Kind abwerten, empfindet es Scham: „Du bist so tollpatschig. Nichts kann man dir anvertrauen. Ich kann dir nicht vertrauen…“. Belohnung

Mit dem Bestrafen oder Belohnen zerstören wir die vertrauensvolle Verbindung zwischen uns und dem Kind. Wir vernichten Nähe, Vertrauen und Verständnis und damit langfristig auch die Möglichkeit zu erfahren, was in dem Kind vorgeht. Wir fördern Konkurrenzdenken und Machtstreben und opfern dafür den Anreiz, für sich selbst oder andere Einsatz zu erbringen.

Und warum ist Belohnen oder Loben dem gleich zu stellen?

Mit Bestrafen oder Belohnen – das kann ein Lob sein, emotionale Zuwendung oder ein Vorteil oder Geschenk – sorgen wir dafür, dass das Kind sein Handeln oder Unterlassen danach ausrichtet. Die Motivation des Kindes ist also auf das Vermeiden der Bestrafung oder das Erlangen der Belohnung ausgerichtet. Dies ist eine sogenannte extrinsische Motivation, also eine von außen kommende Motivation. Und dieser extrinsische Anreiz vernichtet die intrinsische Motivation, also die eigene des Kindes. Damit verliert das Kind den Kontakt zu sich selbst und die Wahrnehmung und Verfolgung der eigenen Bedürfnisse. Außerdem die Freude und Neugier an der Leistung und am Erfolg. Vielleicht funktioniert das Kind jetzt besser. Mit Talent- oder Potentialentwicklung hat das nichts zu tun, im Gegenteil. Wir machen das Kind zu einem funktionierenden Erwachsenen. Belohnung

Stellen Sie sich vor, Ihr Kind spielt ein Instrument oder übt eine Sportart aus. Sie üben sanften Druck aus, um das Kind zum Üben zu motivieren. Stellen dem Kind in Aussicht, dass es für das Üben, fernsehen darf. Oder belohnen es mit Lob oder Küsschen für jedes neue Musikstück oder sportliche Technik. Die unsanfte Variante wäre die – nicht ganz seltene – Bestrafung für das Nicht-Üben: Kein Eis, kein Kino, keine Freunde treffen, bevor nicht die tägliche Klavier- oder Trainingseinheit erfüllt ist. Belohnung

Es macht keinen Unterschied. In beiden Fällen üben wir Gewalt aus und zerstören die Freude des Kindes an der Musik oder am Sport. Mit langfristigen Folgen. Sobald das Kind ausbrechen kann, wird es das tun. Ein Musiker oder Sportler wird daraus selten. Und wenn, dann vermutlich kein glücklicher.

Wenn wir eine Leistung aus eigener Motivation heraus erbracht haben, schüttet das Gehirn großzügig belohnende Hormone aus. Es ist also gar nicht notwendig, das Kind darüber hinaus zu belohnen. Es fühlt sich schon belohnt. Belohnung

Und wie kann uns Achtsamkeit helfen?

Unter Achtsamkeit verstehe ich Präsenz und Beobachten, unterstützt durch förderliche Geisteshaltungen wie z.B. Geduld, Akzeptanz und Vertrauen.

Volle Präsenz, das heißt die ungeteilte Aufmerksamkeit, ist wohl das größte Geschenk, das wir einem anderen Menschen machen können. Für mich gehört dazu auch das nicht-wertende, interessierte Zuhören. Ich höre dem Kind mit Geduld zu, ohne an meine To-Do-Liste zu denken oder im Kopf schon das Abendessen zu planen. Je öfter ich das tue, umso mehr wird nicht nur meine Beziehung zu dem Kind wachsen, sondern auch das Vertrauen des Kindes in sich selbst. Und damit verändere ich die Entwicklung meines Kindes.

Das hilft in den meisten Fällen natürlich nicht kurzfristig.

Was also kann ich kurzfristig tun?

Ich kann mir selbst die ungeteilte Aufmerksamkeit schenken und mir selbst zuhören. Und vielleicht erhalte ich dann die Antwort auf die eine oder andere Frage.

In dem obigen Beispiel wären das vielleicht Antworten darauf:

Warum möchte ich, dass mein Kind nicht mehr stört? Geht es mir wirklich um das Kind? Hat das Kind ein Problem damit oder nur die Lehrerin?

Oder geht es mir um mich selbst, um meinen Wunsch In-Ruhe-gelassen zu werden (Eltern) oder meinen Unterricht durchzuführen (Lehrerin)? Oder als Elternteil den Wunsch, einen Musterschüler zu haben, welcher Lob nach Hause bringt, weil dadurch indirekt ich selbst gelobt werde (und ich das Belohnungssystem ebenso verinnerlicht habe ;- ))

Und kann ich es aushalten und akzeptieren, dass mein Kind mit 7 Jahren in der Schule stört? Habe ich die Geduld und das Vertrauen, dass sich im Leben alles ändert und somit auch dieses Problem irgendwann Vergangenheit sein wird? Und wenn nein, was könnte ich noch tun?

Diese Frage, lieber LeserInnen, kann und will ich Ihnen nicht beantworten. Die Antwort im konkreten Fall können Sie nur selbst finden. Vielleicht hilft dabei die Frage:

Was ist jetzt wirklich wichtig?

Ihre Jessica Granitza