Autorin: Susanne Holst-Franke  • Dauer: 5 Minuten  


Motiviert durch den Artikel meines Kollegen Thomas Schönmetz zur Geschichte von Galileo Galilei, möchte ich nun doch die Geschichte einer meiner Patientinnen erzählen. Auch wenn diese Geschichte wesentlich aktueller ist, als die von Galilei, so ist auch in diesem Falle die „Betrachtung einer Situation“ das zentrale Thema, sowie die daraus resultierende „Bewertung & Handlung“. Zusammen

Über der Geschichte schwebt das Thema Corona, die Maßnahmen und der Umgang damit. Kein anderes Thema steht seit mehr als 10 Monaten medial derart im Mittelpunkt. Und das prägt uns – egal in welche Richtung. Was aus solchen Prägungen heraus entstehen kann, zeigt die unglaubliche Geschichte meiner Patientin.

Was ist passiert?

Vor einigen Wochen, an einem Samstagvormittag, besucht Claudia (Name geändert) einen Baumarkt in Frankfurt. Sie will sich Holz zuschneiden lassen. Diese Idee haben an diesem Samstag scheinbar viele Frankfurter. Die Schlange an der Zuschneidemaschine ist lang. Die Menschen warten geduldig und mit viel Abstand. Alle tragen eine Maske. Auch Claudia trägt eine Maske. Zusammen

Die Wartezeit für Claudia beträgt etwa 20 Minuten. Damit hat sie nicht gerechnet. Sie fühlt sich schlagartig unwohl, ein Gefühl von Übelkeit macht sich breit … vielleicht der Kreislauf? Sie ist fast an der Reihe, nur noch eine Frau ist vor ihr. Jetzt wird ihr richtig schlecht und sie befreit ihre Nase zur Hälfte von der Maske um besser Luft zu bekommen – nur ein paar Mal durchatmen – sie ist gleich dran – durchhalten!

Dann ist es soweit – sie ist an der Reihe. In dem Moment, als sie ihren Wagen die verbleibenden 3 Meter vorschieben will, wird sie von einer Frau aufs Heftigste angerempelt und brutal zur Seite gestoßen. Claudia will wissen wo das Problem der Angreiferin ist. Ihr Arm und ihre Schulter schmerzen. Die Angreiferin schreit: „Geh sterben du Stück Sch…, wegen dir verrecken Menschen auf der Intensivstation, du asoziale Schl… Bist du dumm? Es gibt eine Maskenpflicht!“ Zusammen

Claudia ist geschockt, sprachlos, regungslos, fassungslos und hilflos. Claudias Gedanken fahren Achterbahn. Diese Brutalität wegen ein paar Atemzügen mit halbnacktem Näschen – unfassbar für Claudia. Das Karussell im Kopf dreht sich weiter, doch … jetzt ist sie an der Reihe. Doch der Vorfall beschäftigt sie noch viele Tage.

Warum ich diese Geschichte erzähle? Weil sie mich sehr berührt hat! Claudia hat, aufgrund einer Lungenerkrankung, eine Befreiung von der allgemeinen Maskenpflicht und sie trägt dennoch eine – aus Solidarität, um Diskussionen zu vermeiden und um andere zu schützen. Sie ist keineswegs asozial und auch nicht dumm. Und ihr war im Baumarkt einfach nur „schlecht“ … nicht mehr und nicht weniger. Zusammen

Jetzt könnte man in den Kategorien gut-böse, richtig-falsch oder schwarz-weiß weiterdenken und schreiben. Genau das ist an diesem Samstag in diesem Baumarkt geschehen. Die Angreiferin wusste nichts von der Maskenbefreiung, sie hat auch nicht danach gefragt. Sie hat die Ignoranz meiner Patientin einfach vorausgesetzt. Das hat die Angreiferin wütend gemacht. Sie hat eine Situation beurteilt und die betreffende Person verurteilt und sogar körperlich angegriffen.

Wenn Emotionen „herrschen“

Die Angreiferin war nicht wütend aufgrund von Tatsachen, sondern aufgrund ihrer bewertenden Betrachtung und ihrer eigenen negativen Gedanken. Nochmal: sie war wütend aufgrund ihrer eigenen Gedanken! Gedanken, die sie nicht auf Richtigkeit, Wahrheit oder Sinnhaftigkeit überprüft hat. Zusammen

Wie wir wissen, haben unsere Gedanken einen mächtigen Einfluss auf unsere Gefühle. Es ist also verständlich, dass man Wut empfindet wenn man denkt/vermutet, dass jemand Vorschriften oder Regeln zum Schutz anderer einfach ignoriert. Dennoch und fatalerweise entsprachen diese Gedanken nicht der Realität, sie waren das Produkt der Gedanken und der Gefühle der Angreiferin. Ein solches, sehr vereinfachtes, Denken wird uns Menschen nicht in Verbindung, nicht in den Austausch, nicht ins Verständnis bringen. Es wird uns eher spalten. Zusammen

Wollen wir das wirklich?

Ich glaube wir sind aktuell mehr denn je gefordert, wirklich klarer zu denken, generell vermehrt zu denken, nachzufragen, zu überprüfen, zu hinterfragen und auch unser Verhalten zu überprüfen – gerade auch unsere eigenen Gedanken immer wieder zu hinterfragen … gibt es vielleicht einen alternativen Gedanken? Besteht die Möglichkeit, dass es ganz anders ist, als ich gerade denke?

Gerade in der jetzigen Zeit ist dieses omnipräsente Gefühl von Angst mehr vorherrschend als sonst: Angst vor Ansteckung, Angst um die eigene Existenz, Angst für die Erkrankung anderer verantwortlich zu sein, Angst vor dem Tod, Angst vor Unfreiheit, Angst dass nichts mehr sein wird wie es einmal war, Angst vor Unwissenheit, Angst vor Unverständnis, Angst vor Entzweiung, Angst vor Hilflosigkeit, … Angst, Angst, Angst.

Mehr denn je zuvor sind wir gefordert, uns achtsam mit unseren Gedanken und Gefühlen auseinanderzusetzen. Aber wir sind auch gefragt, Gedanken zu teilen, Gefühle anzuerkennen, Mut zu machen, Verständnis zu schenken, Freude zu teilen, Zuversicht zu sähen, Trost zu spenden und einander wirklich zuzuhören. Zusammen

2021 braucht mehr Achtsamkeit, mehr achtsames Denken und Handeln. Wenn wir Achtsamkeit in unserem Leben vermehrt kultivieren, dann finden wir auch wieder mehr zusammen. „Zusammen“ – das fände ich schön – sehr schön.

Ihre Susanne Holst-Franke