Autorin:  Jessica Granitza • Dauer: 7 Minuten • 


Was ist Stress und ab wann wird Stress gefährlich? Das Wort Stress kommt ursprünglich aus der Materialkunde und bezeichnet die Einwirkung physikalischer Kräfte auf feste Körper nach dem englischen Ausdruck „stress“, der auf Deutsch „Belastung, Spannung, Druck, Überdehnung“ bedeutet. In der Materialkunde geht es darum, wieviel Druck oder Überdehnung ein fester Körper toleriert, bis er reißt oder bricht („Stresstest“). Auch wenn das Wort Stress inzwischen inflationär benutzt wird, steht die eigentliche Bedeutung genau dafür: Druck und Belastung auf unseren Körper – gegebenenfalls mit der Folge des Zerbrechens.

Anfänglich ist eine Stressreaktion nichts Ungesundes oder Schlechtes, sondern im Gegenteil eine geniale Überlebensstrategie, die erst im Laufe der Evolution zur Sicherung des eigenen Überlebens in Gefahrensituationen entwickelt wurde.

Die Stressreaktion unseres Körpers bereitet uns innerhalb kürzester Zeit auf körperliche Höchstleistung vor, um einer drohenden Gefahr durch eine Kampf- oder Fluchtreaktion zu begegnen. Diejenigen körperlichen Funktionen, die für die Ausführung einer derartigen körperlichen Bewältigungsreaktion notwendig sind, werden angeregt (Atmung, Herz-Kreislauf, Energiebereitstellung), während die eher regenerativen und reproduktiven Körperfunktionen (Verdauung und Energiespeicherung, Sexualität, Fortpflanzung, Wachstum), die für die kurzfristige Auseinandersetzung mit einer akuten Gefahr weniger wichtig sind, gedrosselt werden.

Der biologische Ablauf der Stressreaktion

Eine Stressreaktion wird ausgelöst, wenn unser Gehirn eine Situation als bedrohlich bewertet. Die über die Sinnesorgane eingehenden Informationen werden zunächst im Thalamus, dem größten Teil des Zwischenhirns, sortiert und grob bewertet. Dort wird die Entscheidung getroffen, ob die Information innerhalb des Gehirns überhaupt weitergeleitet oder als unwichtig verworfen wird.

Informationen, die wichtig genug sind, werden sodann vom Thalamus an die Großhirnrinde weitergeleitet, wo ein Abgleich mit Erinnerungen ähnlicher Erfahrungen stattfindet. Sollte die Bewertung in der Großhirnrinde zu dem Ergebnis „bedrohliche Situation“ kommen, weil eine ähnliche Situation „ungute“ angstbesetzte Erinnerungen abgespeichert hat, so wird diese Information u.a. an die Amygdala weitergegeben. Dort werden sehr schnell entsprechende Vorkehrungen getroffen, um für Kampf oder Flucht zu Höchstleistungen bereit zu sein. Abgespeicherte persönliche Erfahrungen sind somit von entscheidender Bedeutung für das Auslösen einer akuten Stressreaktion.

Die erste körperliche Aktivierungsreaktion wird über die sogenannte Sympathikus-Nebennierenmark-Achse ausgelöst: In einem Bruchteil von Sekunden werden durch elektrische Impulse Signale über die Nervenbahnen in alle Organe gesendet. Damit wird das Herz und die Atmung aktiviert, um mehr Sauerstoff ins Blut zu pumpen, die Blutgefäße der großen Muskeln und des Gehirns werden erweitert und besser versorgt, die Schmerzempfindlichkeit sinkt kurzfristig, alles was nicht benötigt wird vorübergehend reduziert oder sogar ausgesetzt.

Die Immunabwehr wird vorübergehend gesteigert. Das Gehirn ist wach und fokussiert und das freigesetzte Noradrenalin verstärkt in diesem ersten Zeitraum die Bildung von neuronalen Verschaltungen, wodurch das Gehirn merkfähiger wird. Das Gehirn soll also die Erfahrung abspeichern, sofern diese erfolgreich gemeistert wird. Die Bewältigungsstrategie, mit der die akute Bedrohung „überlebt“ wurde, soll nicht verloren gehen.

Sofern es uns gelingt, der Gefahr zu entkommen bzw. sie aktiv zu bewältigen, wird das Stressprogramm beendet. Die Aussendung von Alarmsignalen, die sympathische Aktivierung nimmt ab, der Körper beruhigt sich. Die Stressreaktion findet ein Ende. Das Adrenalin im Blut wird abgebaut; der Körper kann sich erholen.

Die fortgesetzte Stressreaktion

Ist dies jedoch nicht der Fall, weil sich die Situation vielmehr als nicht so leicht kontrollierbar erweist, wird die Aktivierung des Mandelkerns (Amygdala) und des „blauen Kerns“ (Locus Caeruleus) aufrechterhalten. Die Nervenzellen des „blauen Kerns“ setzen weiter Noradrenalin frei. Dieses hält die sympathische Aktivierung aufrecht. Der Mandelkern produziert weiter den erregenden Botenstoff Glutamat. Dieser breitet sich über aufsteigende Nervenbahnen auch in höher gelegenen Hirnregionen aus.

Die Aktivierung der Großhirnrinde und des limbischen Systems wird verstärkt. Es kommt zu einem sich aufschaukelnden und ausbreitenden Erregungsmuster, das schließlich auch spezielle Nervenzellverbünde im Hypothalamus erfasst. Die Aktivierung dieser hypothalamischen Nervenzellen wiederum bewirkt die Stimulierung der zweiten Stressachse, der sog. Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HHNR-Achse). Diese besteht aus einer ganzen Kaskade aufeinander abgestimmter hormoneller Reaktionen, unter anderem der Ausschüttung von Kortisol.

Kortisol hindert den Ausbau neuronaler Verschaltungen, damit die – sich als erfolglos erwiesene – Bewältigungsstrategie nicht im Gehirn abgespeichert wird. Dadurch soll das Gehirn beim nächsten Mal neue Strategien auszuprobieren und nicht die gleiche Strategie wiederholen.

Die gefährlichen Folgen von Dauerstress

Während also zu Beginn der Stressreaktion Lernen erleichtert wird, wird es bei länger andauernder Stressreaktion stark erschwert. Daher leidet die Konzentrations- und Merkfähigkeit unter Stress bis hin zu demenzähnlichen Symptomen.

Zudem werden die bereitgestellten Energien im Blut wie Zucker und Fett nicht abgebaut. Der erhöhte Zuckerspiegel verursacht einen Verbrauch der Insulinreserven und kann eine Vielzahl von Krankheiten auslösen, das Fett setzt sich in den Blutbahnen ab und kann zu Verstopfungen der Blutbahnen führen. Die anfänglich erhöhte Ausschüttung von Endorphinen zur Hemmung des Schmerzempfindens leert die Endorphinspeicher und erhöht somit nach kurzer Zeit die Schmerzempfindlichkeit des Körpers.

Bereits nach 30–60 Minuten werden die Immunfunktionen wieder gedrosselt, um eine überschießende Immunreaktion in Form von allergischen Reaktionen zu verhindern und Entzündungsreaktionen zu dämpfen.

Da der Körper sich weiterhin im Überlebensmodus befindet, bleibt es bei der vorgenommenen Drosselung der regenerativen und reproduktiven Körperfunktionen, weshalb wir Probleme in eben diesen Bereichen wahrnehmen, insbesondere die Verdauung, Sexualität, die Durchblutung und die Engergieproduktion können gestört sein, solange wir uns im Stress befinden. Daneben ist auch die Muskulatur aufgrund einer unbewusst eingenommenen Schutzhaltung und einer erhöhten Muskelspannung oft stark beeinflusst und wir leiden an Verspannungen.

Psychische Veränderungen durch Stress

Neben den körperlichen Reaktionen wirkt sich die Stressreaktion massiv auf unser Denken und Fühlen aus. Die Gedanken und Gefühle entstehen sozusagen durch die Brille der akuten Lebensgefahr, in der wir uns im Stress- bzw. Überlebensmodus aus Sicht unseres Körpers befinden.

Es treten äußerlich sichtbare Verhaltensänderungen wie hastiges oder ungeduldiges Verhalten, vermehrter oder unkontrollierter Konsum von betäubenden oder berauschenden Mitteln, unkoordiniertes Arbeitsverhalten, motorische Unruhe, Agressivität, Gereiztheit auf. Auf der kognitiv-emotionalen Ebene umfasst die Stressreaktion nach außen nicht sichtbare innere Vorgänge wie Gefühle der Instabilität, Unruhe, Ärger, Wut, Angst, Versagensängste, Hilflosigkeit, Schuldgefühle, Selbstvorwürfe, Blackout, Tunnelblick usw….

Oft schaukeln sich die körperlichen, verhaltensmäßigen, emotionalen und gedanklichen Stressreaktionen wechselseitig auf, so dass es zu einer Verstärkung oder Verlängerung der Stressreaktionen kommt.

Fazit

Andauernder Stress ist Ursache fast aller Krankheiten, die wir kennen und wirkt sich außerdem massiv auf unsere Lebensqualität aus, da wir im Stress nicht nur körperlich beeinträchtig sind, sondern anders denken, fühlen und wahrnehmen. Daraus wiederum ergibt sich ein verändertes Verhalten, welches meist weitere – unnötige – Probleme nach sich zieht.

Gleichzeitig ist kurzeitiger Stress wichtig für unsere Entwicklung. Körper und Geist brauchen regelmäßig Herausforderungen, die mit einem moderaten kurzzeitigen Stresserleben einhergehen. In dieser Phase sind wir enorm leistungsfähig und es findet Wachstum statt. Aber nur dann, wenn die Stressreaktion beendet werden kann und eine Phase der Regeneration folgt. Wichtig ist also, dass wir erstens unsere Komfortzone regelmäßig verlassen und zweitens genauso regelmäßig in diese Komfortzone zurückkehren.

Bei andauerndem Stress sind dringend Maßnahmen zur Stressreduktion erforderlich.

Ihre Jessica Granitza